Uladsimir Arlou

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Uladsimir Aljaksejewitsch Arlou (belarussisch Уладзімір Аляксеевіч Арлоў, auch russisch Владимир Алексеевич Орлов Wladimir Alexejewitsch Orlow; * 25. August 1953 in Polazk, Belarus) ist ein belarussischer Historiker und Dichter sowie der Vorsitzende des belarussischen PEN-Clubs.


Unabhängigkeit ist...

Unabhängigkeit ist, wenn du auf einer Entbindungsstation zur Welt kommst, wo es zwar keine der weltweit sterilsten sowjetischen Kakerlaken, dafür aber Einwegwindeln und -spritzen gibt.

Unabhängigkeit ist, wenn dein Vater zum Standesamt geht, um sich bescheinigen zu lassen, dass du tatsächlich geboren wurdest und man dich nach deinem Großvater Ryhor genannt hat; und wenn ihm die Frau, die dort sitzt, ruhig diese Bescheinigung ausstellt und nicht etwa ihr „Handbuch der Vornamen der Völker der UdSSR“ vom Tisch nimmt und auch nicht versucht, während sie damit herumfuchtelt, deinem Vater hysterisch auseinanderzusetzen, dass er seinen Sohn gern Fajzuła oder gar Mamaj nennen könne, aber eben nicht Ryhor, denn einen solchen Namen gebe es nun mal nicht (wohl aber den üblichen, menschenwürdigen Namen Grigori).

Unabhängigkeit ist, wenn du zur Schule gehst und dort in deiner eigenen Sprache Unterricht hast (und das Mädchen Grażynka, das dir schon im Kindergarten gefallen hat, – in seiner Sprache; und dein Nachbar, der kleine Miša, dessen Vater Isaak heißt, – in seiner; und dein anderer Nachbar, der kleine Aloša, dessen Eltern hierher gezogen sind, weil sie sich in ihrer Stadt an der Wolga schon um fünf Uhr früh nach Milch für den Jungen hätten anstellen müssen, – in seiner). Du hast in deiner Sprache Unterricht, und dafür müssen dein Papa und deine Mama nicht den Sommer über von Wohnung zu Wohnung ziehen, um die Anträge anderer Eltern einzusammeln, die nicht etwa nicht wollen, dass man ihre Kinder genauso unterrichtet, wie es dein Papa und deine Mama sich wünschen, sondern die einfach noch nie darüber nachgedacht haben, weil sie in der Epoche des Internationalismus großgeworden sind. Und diese Anträge muss der Direktor nicht dreimal und die Sekretärin zwei weitere Male verlieren; und am ersten Septembertag bekommst du beim feierlichen Fahnenappell nicht zu hören, dass „die materialtechnische Ausstattung unserer Schule von Jahr zu Jahr schöner wird“; und wenn du in deine Klasse gehst, musst du nicht erfahren, dass es dank der unermüdlichen Anstrengungen von Partei und Regierung nur eine Fibel und zwei Mathematikbücher in deiner Muttersprache gibt.

Unabhängigkeit ist, wenn deine Pionierfreundschaft nicht darum kämpft, den Namen „Pawlik Morosow“ oder „Alexander Mjasnikow“ tragen zu dürfen, weil ihr alle bestens Bescheid wisst, wie sehr Pawlik seinen Vater und Mjasnikow die Belarussen mochte.

Unabhängigkeit ist, wenn du studierst und sich dein Altersgenosse aus Madagaskar, mit bräunlicher Haut, der nicht auf Kosten deines, sondern seines eigenen Landes hier studiert, während einer Vorlesung über höhere Mathematik zu dir herüber beugt und fragt, was das Wort „Wahrscheinlichkeit“ bedeutet, und du es ihm auf Französisch erklärst.

Unabhängigkeit ist, wenn du deinen Wehrdienst zwar nicht weiter entfernt als in einer Grenzstadt oder einem Grenzdorf deines Landes leistest, aber dafür befiehlt dir auch nie jemand, den Rasen zu streichen und „von hier an und bis zum Mittagessen“ Ordnung auf dem Gelände zu schaffen. Und am Sonntag kannst du zu deinen Eltern oder deinem Mädchen fahren, und niemand nennt dich „Kartoffelfresser“ oder deinen Freund aus dem Kaukasus einen „Schwarzarsch“, nur weil ihr in eurer Sprache denkt und im Schlaf redet, und niemals befiehlt dir jemand, den Pionierspaten scharf zu machen, um dich in Baku oder Tiflis einzugraben.

Unabhängigkeit ist, wenn dein Mädchen sagt, dass sie am Wochenende nach Wien möchte, und du versprichst ihr guten Gewissens, dass ihr am Samstag auf dem Platz gegenüber dem Schloss Schönbrunn Kaffee trinken werdet; und du weißt, dass vor eurer Reise niemand versucht herauszufinden, ob du in deiner Kindheit Jude gewesen bist, ob du schon früher im Ausland warst und wann und wozu du von dort zurückgekehrt bist.

Unabhängigkeit ist, wenn du zu Dziady, dem Fest des Ahnengedenkens, auf den Friedhof gehst und weißt, dass du eine Kerze aufstellen und Blumen niederlegen wirst und nicht etwa an einer Erprobung von Nervengaspatronen oder dem neuesten Gummiknüppelmodell teilnehmen musst.

Unabhängigkeit ist, wenn dein Sohn eine Eins in Geschichte nach Hause bringt und du ihn für diese Eins lobst, weil du weißt, dass er sie nicht in dem Fach erhalten hat, in dem man die Schüler über die Schlacht auf dem Eise des Peipussees und den Sieg der Kollektivierung unterrichtet, sondern in einem Fach, in dem man ihnen etwas von der Schlacht bei Grunwald beibringt, die dein Volk vor dem Tode bewahrt hat, und in dem man die Wahrheit sagt über die Macht, die deinen Großvater erschießen und deine Oma elendig verhungern ließ.

Unabhängigkeit ist, wenn du von einem belarussischen Sänger aus New York Besuch bekommst und ihr zusammen ein gutes Gläschen Kirsch trinkt, und wenn danach keine netten Herren in Zivil kommen, die dich auffordern, ausführlich niederzuschreiben, wo und was ihr getrunken habt und über wen ihr dabei hergezogen seid.

Unabhängigkeit ist, wenn du nie mehr hörst, wie dein Präsident vom Bildschirm aus seine Landsleute belehrt: “Jeder soll er sprechen, als wie er mächt”, denn dein Präsident kann lesen und schreiben und beherrscht wenigstens eine Sprache richtig.

Unabhängigkeit ist, wenn aus den Fernsehsendungen und Zeitungen plötzlich die Briefe unermüdlicher und mysteriöser Veteranen und die schrecklichen Mitteilungen über die Nationalisten und Extremisten von den Volksfronten verschwinden, die selbst des Nachts nicht ruhen, sondern zwischen dir, Aloša und Miša, dessen Vater Isaak hieß, sowie Grażyna, die seit langem schon deine Frau ist, nationale Zwietracht säen, um ein blutiges Gemetzel unter euch anzuzetteln und den Zug der Perestroika zum Entgleisen zu bringen.

Unabhängigkeit ist, wenn niemand dir Angst macht, dass dein Volk ohne den riesigen großen Bruder nicht überleben kann, weil es kein eigenes Bauxit und keine Diamanten hat, und du verstehst, dass du ganz umsonst die bedauernswerten Holländer und Belgier bemitleidet hast, die weder Bauxit noch Diamanten und noch nicht einmal einen großen Bruder haben.

Unabhängigkeit ist, wenn die gewaltigen Lastwagen mit der Aufschrift “Zentralausfuhr” (oder hat man jemals welche mit dem Schriftzug “Zentraleinfuhr” gesehen?) nicht fremde, sondern unsere eigenen Geschäfte ansteuern.

Unabhängigkeit ist, wenn sich plötzlich herausstellt, dass es auch bei uns helle Köpfe gibt, und dass wenn, was Gott verhüten möge, ein Werk explodiert oder etwas anderes Schlimmes passiert, wir nicht erst abwarten müssen, bis eine Kommission Moskauer Schlauköpfe anreist.

Unabhängigkeit ist, wenn du auf dem Sterbebett die Gewissheit hast, dass, nachdem du diese Welt verlassen haben und dafür in eine bessere gekommen sein wirst, an der Stelle der Kirche, in der du getauft wurdest und dich trauen ließest, kein Teich mit einem schmuddeligen Schwan ausgehoben und auch kein Schwimmbad namens “28. Parteitag der KPdSU” gebaut wird, und dass der Friedhof, auf dem deine Gebeine ruhen werden, nicht planiert und in einen nach dem Genossen Gorbatschow benannten Kultur- und Erholungspark, den überall herumliegende leere Flaschen zieren, umgewandelt wird.

Unabhängigkeit ist, wenn…

Unabhängigkeit ist, wenn du dich von Geburt an bis an dein Ende im eigenen Land zuhause fühlst.

Ich glaube daran, dass es einst so sein wird.

Denn sonst lohnte es sich einfach nicht zu leben.

Februar 1990

Aus dem Belarussischen von Steffen Beilich

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