Belarus war und ist Teil Europas: nicht nur geografisch gesehen, sondern auch angesichts der Teilnahme des Landes an gesamteuropäischen Prozessen. Außerdem hat ausgerechnet Belarus alle Chancen zur Entwicklungsdrehscheibe des Kontinents zu werden und dafür gibt es mannigfaltige Gründe: eins davon ist die Absenz von solchen gesellschaftlichen Strukturen, die dem „alten Europa“ einerseits zur stabilen schrittweisen Entwicklung verhelfen, aber andererseits absolut notwendige qualitative Veränderungen verhindern.
Lukashenka hat aus Belarus eine gesellschaftlich-politische Wüste gemacht - das ist schlecht, doch in der Leere lässt sich leichter etwas Neues aufbauen, da man nichts Altes dafür abreißen muss. Da hat das Land einen entscheidenden Vorteil.
Selbstverständlich geht es nicht darum, das Rad neu zu erfinden oder irgendwelche „besondere“ oder „dritte“ Wege zu gehen. Vieles ist bereits erfunden. Um nicht in Detailaufzählungen zu versinken, erwähnen wir an dieser Stelle nur Richard Coudenhove-Kalergi, Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises, Sir Karl Popper, Nassim Nicholas Taleb und verweisen auf die politische Praxis der Schweiz, die Kritiker des Parteiensystems im Rahmen einer repräsentativen Demokratie u.v.m.
Die Zivilgesellschaft des Landes hat vor, Belarus-2 von null an aufzubauen und all das zu realisieren, was aus verschiedenen Gründen vorhin nicht realisiert werden konnte. Das wird schließlich Belarus ermöglichen, zum Wachstumspunkt Europas zu werden. Das ist unser Ziel als Belarussen!
Die Belarussen sind sich dessen bewusst, dass sich die Regierungen der europäischen Staaten prioritär um ihre eigenen Interessen kümmern, weshalb auch keine substanzielle Unterstützung von ihnen zu erwarten ist.
„Die Unterstützung durch Kontinentaleuropa wurde von der Sorge zurückgehalten, dass Belarussen in eine Illusion verfallen würden, wonach eine Aussicht zum Beitritt in die EU besteht“, - schrieb der exzellent informierte Hans-Georg Wieck in seinem Artikel „Demokratieförderung - in der Sackgasse. Europas Versagen in Osteuropa am Beispiel Belarus“. Und diese „rationale“ (in Wahrheit aber sehr kurzsichtige) Politik der europäischen Eliten ist aufgegangen: die befürchtete Illusion ist bei den Belarussen tatsächlich nicht vorhanden.
Beim Aufbau des neuen Belarus‘ wird das Land mit allen Staaten zusammenarbeiten, die sich als Teil der europäischen Wertegemeinschaft sehen. Dabei sollen formelle Mitgliedschaften von Belarus und die der Partnerstaaten in europäischen und sonstigen internationalen Bündnissen keine Rolle spielen. Gute Zusammenarbeit misst sich in Taten und nicht anhand politischer Absichtserklärungen.
Die Belarussen haben es nicht vor, Gönner oder Sponsoren zu suchen, Förderungen zu kassieren, der EU um jeden Preis beizutreten und den Status des Nettoempfängers zu genießen. Die Belarussen suchen Verbündete für die Befreiung Europas von einer schmutzigen Diktatur, die auf dem Kontinent und eigentlich auch auf der Welt nichts zu suchen hat. Unabhängig von widrigen Umständen haben wir es vor, in dieser Sache erfolgreich zu werden. De Gaulle hat es mit der „France libre“ geschafft, somit schaffen wir das auch!
Die Belarussen suchen Partner für die Erschaffung eines neuen Belarus‘, was dem Kontinent dazu verhelfen wird, auf ein neues Niveau aufzusteigen und zumindest einige der bisher ungelösten Krisen zu meistern. Auch hier sind wir überzeugt, dass wir all das schaffen werden.
Die Macht in Belarus gehört formell der Regierung (nicht dem Volke), in der Realität aber dem Lukashenka-Kartell, das sich in seiner Organisationsstruktur an mexikanische Drogenkartelle orientiert. Das Lukashenka-Kartell ist kein rechtmäßiger Machthaber von Belarus: unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Lukashenka-Kartell mit Putin, seinem Umfeld und der Regierung der Russischen Föderation engste Verbindungen pflegt, kann man Gewiss sagen, dass Lukaschenka ein Vertreter der Besatzungsmacht Russland ist, denn Belarus ist seit Dezember 2021 durch Streitkräfte der Russischen Föderation okkupiert.
Belarus ist nicht Russland und war es auch nie. Die Unterschiede zwischen den Gesellschaften (da ist wohl der Ausdruck „Kluft“ passender) sind enorm. Es gibt keine Russische Föderation. Es gibt ein Russisches Reich, ein immerwährendes, gleichbleibendes Gebilde, das alle paar hundert Jahre seinen Namen ändert, und welches ein zivilisatorischer Feind Europas und somit auch Belarus‘ ist.
Das Projekt „Russische Welt“ („Russkij Mir“) sieht generell keine Existenzberechtigung kleiner Länder vor. Belarus ist ein kleines Land, weshalb das Russische Reich die unmittelbare Bedrohung einer Vernichtung Belarus‘ darstellt. Hier geht es um nichts Geringeres als das physische Überleben Belarus‘: das Russische Reich bedroht mit seiner alleinigen Existenz das Fortbestehen Belarus‘. Die konsequenten Versuche des Establishments, „München 2020“ zu organisieren und somit Belarus Russland zum Fraß zu servieren, um Frieden zu erhalten, haben naturgemäß zu einem Krieg geführt. Das wird sich immer wiederholen, solange imperiale Konstruktionen Russlands nicht aufgelöst werden. Trotz der Indoktrinierung der russischen Gesellschaft mit imperialen Bestrebungen und massenhafter Unterstützung aggressiver Beziehungen zu Nachbarstaaten, heißer Kriege, Annexionen und Assimilierungen, zählen u.a. für Belarussen die Russen als erste Opfer des Imperiums: die Befreiungsversuche der Völker Russlands aus dem imperialen Kontext werden begrüßt.
Der Belarusse hält eine stolzierende Demonstrierung seiner nationalen Identität als unhöflich. Die hervorragenden Russischkenntnisse in der Bevölkerung (mitunter besser als in der Durchschnittsbevölkerung der Russischen Föderation) führen dazu, dass der Belarusse auf eine Ansprache auf Russisch auch auf Russisch antwortet. Dies befeuert den Irrglauben unter den Russen, dass das belarussische Volk „ein Brudervolk ist, das mit polnischer Propaganda verdorben wurde“. Jedoch ist und bleibt diese Wahrnehmung nichts Anderes als eine Illusion.
Der „Blut und Boden“-Nationalismus war in Belarus nie bestimmende Kraft im gesellschaftlichen Diskurs. Die Herkunft der Bevölkerung des Großfürstentums Litauen, Ruthenien und Schemaitien, welches den Großteil der Fläche des heutigen Belarus einnahm, besteht aus Balten, Dnepr-Russen (aus der sog. ursprünglichen Rus‘), Tataren, Juden, Polen, Schotten und den autochthonen Belarussen selbst. Dieser Umstand und das Leben der Bevölkerung in einer national-kulturellen Autonomie, macht Chauvinismus und überbordende Xenophobie zum Ding der Unmöglichkeit.
Die negative Haltung zu Moskowien und dem Russischen Reich ist weder Nationalismus noch „Russophobie“. Es ist und kann nur eine vernünftige Reaktion auf 500 Jahre Aggression und Vernichtungsversuche sein. Grundsätzlich zählt seit der Zeit unter Stalin u.a. folgendes als „Ausdruck“ des Nationalismus: die nationale weiß-rot-weiße Fahne, das Wappen Pahonja, der Vorzug der belarussischen Sprache zur Kommunikation und die Begrüßung „Hoch lebe Belarus!“ („Žyvie Bielarus!“). Seit vor kurzem wurde all das durch das Lukashenka-Kartell unter Androhung von Haftstrafen verboten.
Die Zivilgesellschaft in Belarus ist mehr als nur vorhanden. Leider müssen wir feststellen, dass die belarussische Zivilgesellschaft – ganz konträr zu Aussagen der Entscheidungsträger in Europa – ihren Kampf für Freiheit und gegen die „leise“ Besetzung des Landes durch das Lukashenka-Kartell und Russland, ohne nennenswerte Unterstützung führt. Siehe das bereits erwähnte Werk von Hans-Georg Wieck „Demokratieförderung - in der Sackgasse. Europas Versagen in Osteuropa am Beispiel Belarus“ – seit seiner Veröffentlichung im 2006 hat sich nichts verändert.
Die belarussische Zivilgesellschaft ist vielfältig und beschränkt sich nicht auf die in Europa bekannten Persönlichkeiten. Man kann mit Gewissheit sagen, dass die bekannten Personen max. 10% der Aktivisten ausmachen. Rund 25 Jahre Staatsterror haben die Belarussen gelehrt, unauffällig zu sein. Wer also doch auffällt, ist größtenteils eben nur dazu da, um aufzufallen, während produktive Arbeit im Hintergrund geschieht. Die Couleurs des belarussischen Widerstandes reichen von Anarchisten aus dem linken bis zu christlich-konservativen Organisationen aus dem rechten Lager. Parteien und parteiähnliche Strukturen genießen keine Anhängerschaft in Belarus, zumal allein schon das Wort „die Partei“ zu heftig an unliebsame Sowjetzeiten erinnert. Durch die Inhomogenität des belarussischen Widerstandes und der Wahrung eines kritischen Abstandes zu formellen politischen Organisationen, insbesondere solchen mit vertikalen Hierarchien, ist eine Versammlung der Bewegung unter einem Anführer nicht erwünscht. Eine dezentrale Organisation des Widerstands trägt der Meinungsvielfalt der belarussischen Zivilgesellschaft Rechnung und macht Kontrolle von außen zu einer Herausforderung.
Denn die Essenz und Widerstandsfähigkeit einer jeden Demokratie misst sich am Pluralismus ihrer Institutionen und politischen Gegengewichten. Um solch eine Konstruktion auch im zukünftigen Belarus aufbauen zu können, müssen wir unsere Arbeit hier und jetzt nach diesen Prinzipien ausrichten.
Hoch lebe Belarus! Жыве Беларусь! Žyvie Bielarus!
Verein Belarusische Diarpora in Österreich. Wien, 20.11.22